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Pfleger und Bewohner mit Tablett

Traditionen gegen das Vergessen

Weihnachten ist ein Fest, das lebenslang mit vielen Ritualen und Erinnerungen verbunden ist. Selbst dann noch, wenn scheinbar alles ausgelöscht ist.

Von Catharina Karlshaus

Der Weihnachtsbaum und die glänzenden Kugeln daran. Die jahrhundertealte Tradition, ihn zum Fest auf diese Weise mit Kugeln und Sternen zu schmücken, bleibt für immer im Gedächtnis. Denkt zumindest der gesunde Mensch. Angehörige von Demenzkranken wissen leider, dass es anders sein kann.

© Kristin Richter

Großenhain. Johanna Philipp hat schon 83-mal Weihnachten gefeiert. Als zehn Jahre altes Mädchen gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Gerda und Bruder Alfred* in Ostpreußen. Später mit ihrem Mann Richard und den beiden Kindern auf einem beschaulichen Dorf. Und schließlich als Oma und Urgroßmutter im Kreise ihrer Lieben in Meißen. In diesem Jahr wird alles anders sein. Nicht nur, weil Johanna Philipp seit Februar in der Großenhainer Seniorenresidenz Pro Civitate an der Mozartallee wohnt. Sie dort ein kleines Zimmer ihr Eigenen nennen darf, in welchem weder ein schwergewichtiger Weihnachtsbaum, noch eine opulente Pyramide hinein passen. Nein. Es ist anders, weil Johanna Philipp anders geworden ist – und erst recht die Welt, in der sie plötzlich lebt. Dass sie mit Tochter Ingrid und Sohn Rainer gern Plätzchen gebacken hat, scheint ihr nicht mehr vorstellbar. All die Märchen, die sie ihnen früher in der Adventszeit erzählt hat. Nein, Lesen wäre noch nie ihre große Leidenschaft gewesen. Und Weihnachten selbst? Wie es riecht und duftet, was es überhaupt ist und emotional sein kann?

Alles ist einfach verschwunden

Die gelernte Industriekauffrau weiß darauf keine Antwort. Ihre gütigen Augen blicken starr in die Ferne. Dorthin, wo alles entschwunden zu sein scheint. Das Leben an der Seite ihres beruflich stark eingebundenen Mannes, die lustigen Episoden, als die eigenen Kinder noch klein waren. Geburtstagsfeiern, das Rezept für die leckere Nudelsuppe. Weg. Alles ist einfach weg. Die Demenz hat Johanna Philipp nicht nur die Erinnerung an Strohsterne, Kerzenschein und Gänsebraten genommen.

An Tagen wie diesem ist die Krankheit noch gnädig. Klappte das Anziehen besser als gestern, als die Arme des Pullovers gleich am Morgen zum schier unüberwindlichen Hindernis geworden waren. Heute, wo auch die hauseigene Friseurin die prächtigen weißen Haare ausgehfein föhnt, lichtet sich der Vorhang häufiger. Weihnachtsfeier sei am Nachmittag. Da müsse man schließlich gut ausschauen“, sagt Johanna Philipp und lächelt zurückhaltend. Die Lauteste ist sie ohnehin noch nie gewesen. Aber in den letzten Jahren, als die Veränderung mehr und mehr von ihr Besitz ergriff, habe sich die schmale Frau immer mehr in sich zurückgezogen. „Natürlich bemerkten wir den Wandel. Aber wir haben ihn einerseits auf das fortschreitende Alter geschoben und wollten es andererseits vielleicht auch nicht richtig wahrhaben“, bekennt Ingrid Schreiner und schüttelt fast ungläubig den Kopf.

Die 61-Jährige macht keinen Hehl daraus, dass es nicht leicht fällt, die Wesensveränderung ihrer Mutter mitzuerleben. Dagegen gestellt habe sie sich allerdings nie. Es gebe keine Vorwürfe gegen etwas zu erheben, das man nicht ändern könne. Am wenigsten ja ihre Mutter selbst, der das Vergessen zuweilen noch durchaus bewusst und deshalb peinlich sei. Zwar wäre es komisch gewesen, dass trotz der Einladung zum Mittagessen, weder der Tisch eingedeckt war, noch Essen in den Töpfen dampfte. Dass ihre sonst so ordentliche Mutter ständig Dinge verlegte, plötzlich auf den geliebten Kaffee verzichtete oder die Einnahme der Mahlzeiten einfach vergaß. Auch deshalb seien Mutter und Tochter dann an jenem 30. Oktober 2016 endlich zusammen zum Arzt gegangen. Etwas, das sie zugegebenermaßen länger rausgeschoben hatten, war schnell auf den Punkt gebracht: Johanna Philipp leidet an Demenz. „Das war schon sehr einschneidend! Ich konnte mir vieles darunter vorstellen, aber noch gar nicht abschätzen, was das wirklich bedeutet“, sagt Ingrid Schreiner.

Was die selbstständige Unternehmerin vor allem nicht ahnen kann: Das Leben wird der inzwischen schon zweifachen Großmutter schneller auf die Sprünge helfen, als während des Arztgespräches angenommen. Noch in der Nacht schluckt Johanna Philipp versehentlich alle im Medikamentendosierer für zwei Tage vorbereiteten Tabletten. Zusammengebrochen wird sie hilflos am Morgen von Ingrid Schreiner gefunden. Schwer gestürzt, in einer Zimmerecke liegend, die nackten Beine mit Schuhcreme beschmiert.

Es ist jener bittere Moment, in welchem die beiden Frauen ihre Rollen endgültig tauschen. Johanna Philipp, die sich unverfängliche Floskeln angewöhnt hat, um nicht konkret antworten zu müssen, kann ihre Demenz nicht mehr verheimlichen. Die Mutter, einst Vorbild und sicherer familiärer Hafen, ist von nun an auf ihre Tochter und die Hilfe anderer Menschen angewiesen. Ingrid Schreiner wird zum verständnisvollen Ankerpunkt und Gedächtnisersatz gleichermaßen. Und damit nicht genug. Zu gefährlich ist es mittlerweile, die bisher so selbstständige Witwe allein in der Wohnung zu lassen. Zu schwer für alle Beteiligten aber, sie sofort in eine Senioreneinrichtung umzusiedeln. „Abgesehen davon, dass wir gar nicht so schnell einen Platz bekommen haben und erst einmal auf eine Tagespflege ausweichen mussten. Es fiel mir sehr schwer, denn ich hätte nie gedacht, einmal meine eigene Mutter wegzugeben. Aber es ging wirklich nicht mehr anders“, erklärt Ingrid Schreiner und Tränen schimmern in ihren Augen.

Sie ist immer noch da

Gedanken, von denen Johanna Philipp nichts ahnt. Obwohl ein Taschenkalender auf ihrem Tisch liegt, weiß sie nicht, wann genau dieses Weihnachten ist. Aber es scheint bald soweit zu sein. Das Personal ihres neuen Zuhauses hat liebevoll geschmückt. Tannenbäume und Figuren aus dem Erzgebirge säumen Gänge und Aufenthaltsräume. „Das haben sie schön gemacht! Als wir Kinder waren, haben die Eltern die Bäume mit bunten Kugeln behangen. In meiner eigenen Familie haben wir es dann nicht ganz so übertrieben“, erzählt Johanna Philipp und schmunzelt.

Auch wenn sie das Gefühl für Zeit und Raum verloren hat. Noch nicht alle Erinnerungen konnte ihr die Krankheit rauben. Traditionen, die gerade Weihnachten ganz individuell gepflegt werden, helfen in diesen Stunden auch Johanna Philipp, gegen das Vergessen anzukämpfen. Ingrid Schreiner wird ihre Mutter am ersten Feiertag zu sich nach Hause holen. Heim in die vertraute Umgebung, die jetzt eine Fremde ist und deshalb nur zeitlich begrenzt guttut. Die fürsorgliche Tochter hat sich mit Ruhe und einem bereits festgelegten Ablauf darauf eingestellt. Ein leckeres Essen, einfach nur beieinander sein und sich daran erfreuen, dass es die Mutter noch gibt. Denn auch wenn sie sich verändert hat – sie ist immer noch da. Und wenn die ersten Töne von „Leise rieselt der Schnee“ angestimmt werden, wird es für einen Augenblick wieder so sein wie früher. Johanna Philipp stimmt textsicher mit ein.

(*Namen geändert)