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Blick auf die Einrichtung

Häschen feiert ihren 100. Geburtstag

Luise Rothe singt sich selbst in der Seniorenresidenz Pro Civitate noch ein Ständchen. Und begeistert Großenhains Oberbürgermeister Sven Mißbach. // Von Catharina Karlshaus // vom 03.03.2020 aus der Sächsischen Zeitung

Die einhundert Jahre alte Jubilarin Luise Rothe mit Steffen Kummerlöw. Für den Leiter der Großenhainer Seniorenresidenz Pro Civitate war dieser 3. März ebenfalls etwas ganz Besonderes. © Foto: Anne Hübschmann

Großenhain. Es ist ein Bild für die Ewigkeit. Etwas zusammengesunken sitzt die zierliche Frau in ihrem Rollstuhl. Die weichen Hände wie zum Gebet gefaltet, umringt von Sohn Uwe und Schwiegertochter Pia, der Blick ein wenig unsicher in die Ferne gerichtet. Die vielen vielen Lebensjahre bringen es mit sich, dass sie nicht mehr ganz so recht weiß, was an diesem 3. März 2020 eigentlich so Besonderes sein soll.

Weshalb hier in der Großenhainer Seniorenresidenz Pro Civitate der Tisch festlich gedeckt ist, prächtige Blumensträuße die kaum ausreichenden Vasen füllen und punkt um zehn Einrichtungsleiter Steffen Kummerlöw, Pflegekräfte, die Lokalzeitung und zu guter letzt sogar Großenhains Oberbürgermeister Sven Mißbach ihr die Aufwartung machen.

Ein Moment, indem Luise Rothe sich innerlich plötzlich zu straffen scheint. Die emotionalen Scheinwerfer aufleuchten und sich das geistige Räderwerk wieder in Bewegung setzt. In würdevoller Haltung und mit einem strahlenden Lächeln nimmt die Oma von vier Enkelkindern und sechsfache Urgroßmutter die Gratulationen zu ihrem einhundertsten Geburtstag entgegen.

Heimleiter Steffen Kummerlöw ist sich sicher: Ohne die Fürsorge ihrer Söhne Jürgen (nicht im Bild), Uwe und seiner Frau Pia könnte Luise Rothe ihren Geburtstag nicht in so guter Verfassung begehen.  © Anne Hübschmann

Ein Ereignis, das auch in der Großenhainer Einrichtung nicht allzu oft vorkommt und das dem hauseigenen Chor ein dreistrophiges Ständchen wert ist. Als Mitarbeiter und Bewohner „Hoch sollst du leben“ schmettern, singt Luise Rothe voller Inbrunst mit. Textsicher ist die alte Dame, die schon immer gern ein Lied auf den Lippen hatte, und augenscheinlich begeistert, von der warmherzigen Stimmung, die inzwischen den Raum erfüllt.

„Frau Rothe ist wirklich etwas ganz Besonderes! Sie hat so eine liebenswerte Art und überdies eine bewundernswerte Gesundheit“, lobt Steffen Kummerlöw. Leider habe er selbst nie eine Oma gehabt. „Aber wenn ich mir hätte eine wünschen dürfen, dann wäre es so eine wie Frau Rothe gewesen“, bekennt der 54-Jährige und lacht anerkennend.

Eine Frau, die einst als älteste von vier Geschwistern in Trier zur Welt gekommen ist. Hineingeboren in eine große behütende Familie, der Vater Beamter bei der Bahn, die Mutter umsorgend zu Hause. Ein Herz und eine Seele sei sie mit ihren Schwestern und dem Bruder gewesen.

Ja, glücklich war die Kindheit, damals in den berühmten goldenen 1920ern, so unbeschwert und fröhlich, dass sie heute noch gern davon erzählt. Es sind die Erinnerungen an eine heile Welt, die Luise dennoch bereit gewesen ist, zu verlassen. Denn verliebt hatte sich die Absolventin eines katholischen Mädchenpensionats – und wie sehr sogar. Ihrem Helmut – er sollte die Bäckerei seines Onkels übernehmen – folgte sie 1946 ohne zu zögern in das ostdeutsche Zottewitz.

Aus der jungen Dame aus gutem Hause wurde nicht nur eine Mama zweier Söhne, sondern auch eine tatkräftige und beherzte Geschäftsfrau. „Ich weiß noch genau, wie sie vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein gearbeitet hat. Treppauf, treppab flitzte sie beladen mit frischen Broten in unserem Haus umher. Und wenn der letzte Kunde rausgegangen und der Laden geschlossen war, putze sie alles wieder blank“, erinnert sich Uwe Rothe.

Zum Niederknien: Der Moment, in welchem innerlich scheinbar wieder alle Scheinwerfer bei Luise Rothe angingen: Mit liebevollen Worten gratuliert Großenhains Oberbürgermeister Sven Mißbach. © Foto: Anne Hübschmann

Gemeinsam mit seiner Frau Pia und Bruder Jürgen kümmert sich der 69-Jährige nun schon gut zwei Jahrzehnte um seine Mutter. Ernsthaft krank gewesen sei sie nie und selbst für erfahrene Ärzte von bewundernswerter Konstitution. Dass sie in der DDR als einzige ihrer ursprünglichen Familie lebte, habe ihr oftmals zugesetzt. Dann vor allem, als Vater und Bruder starben und sie nicht einmal zu ihren Beerdigungen ausreisen durfte.

Der Grund vielleicht, weshalb Luise Rothe nach der politischen Wende umso mehr die Gunst der Stunde nutzte. Auch wenn es den frühen Tod ihres Mannes 1985 nicht ungeschehen machen konnte – die wieder neu entdeckte Nähe zu ihren Schwestern, all die vielen Reisen nach Italien, Österreich oder Monte Carlo ließen den Verlust ein wenig erträglicher werden.

Erinnerungen an ein so reich angefülltes Leben, die in Luise Rothes Augen stehen. Sowieso und an diesem 3. März 2020 ganz besonders. Auch wenn sie hin und wieder in die Ferne schauen. Beginnen innerlich die Scheinwerfer zu leuchten, sind alle wieder da.

„Häschen, du solltest dich jetzt ein wenig ausruhen, bevor die nächsten Gratulanten kommen“, flüstert Schwiegertochter Pia und streichelt der müden Jubilarin sanft über die Wange. Luise Rothe genießt die Zuwendung und lächelt versonnen vor sich hin. Ja, Häschen, so hatte Helmut sie immer genannt. Etwas, das ihr auch mit einhundert niemand nehmen kann – in ihrem Herz ein Bild für die Ewigkeit.