Pinnwand
Blick auf die Einrichtung

„Da haben wir schon anderes überlebt“

Seit fünf Wochen darf Willi Stelzig keinen Besuch mehr empfangen. Unglücklich ist der 87-Jährige in der Großenhainer Seniorenresidenz deshalb nicht.

Der Balkon ist für Willi Stelzig aus der Seniorenresidenz Pro Civitate in Großenhain momentan ein Stück Fenster zur Welt. © Foto: privat

Von Catharina Karlshaus 5 Min. Lesedauer / Sächsische Zeitung

Großenhain. Es hat ein bisschen was von verkehrter Welt. Wer erwartet, den Tröster spielen zu müssen, liegt grundverkehrt. Beschwichtigende Worte, salbungsvolle Erklärungen oder gar verbale Tränentrocknung – alles Fehlanzeige! Bereits nach wenigen Minuten des telefonischen Gesprächs ist klar, da ist ein Mann am anderen Ende der Leitung, dem es richtig gut geht. Den der unsichtbare Virus noch nicht für sich vereinnahmt und schon gar nicht gedanklich im Beschlag genommen hat. „Wissen Sie, es geht uns doch hier wirklich ganz wunderbar! Wir haben das große Privileg, Tag und Nacht aufopferungsvoll umsorgt zu werden. Das ist weitaus mehr, als viele jüngere Menschen gerade erleben dürfen“, sagt Willi Stelzig.

Seit gut fünf Wochen ist der 87-Jährige gewissermaßen von der Außenwelt abgeschnitten. Konnte er bis dahin einen kleinen Bummel durch die Stadt unternehmen oder mal die Mozartallee auf und ab laufen, hat sich sein Aktionsradius nun wesentlich verkleinert. Mal ein Schritt vor die Eingangstür, auf den Balkon oder ein Aufenthalt im Garten. Mehr ist seit 18. März in der Seniorenresidenz Pro Civitate mit Häusern in Großenhain und Meißen nicht möglich. Zu eindeutig war die Entwicklung im Freistaat mit ansteigenden Covid-19-Infektionen und zu deutlich die Vorgaben der sächsischen Landesregierung.

Nein, an einer verhängten Ausgangsbeschränkung und der jetzt noch geltenden Kontaktsperre lasse sich bei aller Berufserfahrung mit heftigen Durchfallerkrankungen oder der jährlich wiederkehrenden Grippe trotz jeglichen Verständnisses für die emotionalen Bedürfnisse der Bewohner nicht rütteln. „Im Vordergrund steht für uns das Wohlergehen unserer 68 Frauen und Männer! Dafür haben wir Sorge zu tragen – und das tun wir auch“, versichert Heimleiterassistent Daniel Zschau.

Erst recht unter diesen besonderen Bedingungen. Habe sich das Personal selbstverständlich schon immer den kleinen Sorgen und Nöten der ihnen anvertrauten älteren Herrschaften angenommen, stehe aufmerksames Zuhören und miteinander Sprechen jetzt im Vordergrund. Zum Schutz von Mitarbeitern und Bewohnern seien die einzelnen Wohnbereiche organisatorisch voneinander getrennt worden, um im Fall der Fälle einer Erkrankung eine große Ausbreitung zu verhindern.

Der Kontakt mit Angehörigen sei wie in anderen Einrichtungen ausschließlich über Telefon und Videokonferenz möglich. Etwas, wovon mehrfach am Tag Gebrauch gemacht werde und wofür die Frauen und Männer zwischen 63 und 100 Jahren großes Verständnis hätten. „Es ist tatsächlich bewundernswert! Diese Generation beweist auch unter diesen schwierigen Umständen wieder einmal ihre große Leidensfähigkeit und beklagt sich nicht“, erklärt Daniel Zschau.

Willi Stelzig ist einer von ihnen. Bis vor zwei Jahren lebte der Vater zweier Töchter noch eigenständig und sich selbst versorgend in einer Dresdner Wohnung. Gesund und voller geistiger Vitalität, die er allen gesundheitlichen Blessuren zum Trotz noch immer ausstrahlt. Dass er vor zwei Jahren einen Schlaganfall hatte, merkt man dem vielseitig interessierten Mann nicht an.

Dennoch ist die plötzliche Erkrankung der Grund dafür, dass er heute überhaupt die Großenhainer Residenz sein Zuhause nennt. „Ich habe mich nach der Rehabilitation dafür entschieden und bereue es gerade in der derzeitigen Lage überhaupt nicht. Stellen Sie sich vor, ich wäre jetzt isoliert in einer Wohnung im dritten Geschoss ohne Fahrstuhl und müsste meiner berufstätigen Tochter die Versorgung auferlegen! Das ist geradezu unvorstellbar für mich“, bekennt Willi Stelzig, dessen Enkelsohn mit einem Forschungsschiff vor Spanien in einem Hafen in Quarantäne liegt. Hin und wieder rufe er den Opa an – und öffnet damit einen Spalt das Tor zur Welt.

Das subjektive Sicherheitsgefühl inmitten seiner Mitbewohner, umsorgt von regelrecht liebevoll agierendem Personal, stelle indes eine große Beruhigung für ihn dar. Dass zum Osterfest kein Besuch empfangen werden durfte beziehungsweise er nicht zur Tochter habe fahren können, wäre kein Problem gewesen. Im Übrigen auch nicht für all die anderen Frauen und Männer, mit denen er natürlich darüber schwatze. Die meisten von ihnen hätten in den vergangenen Jahrzehnten schon weitaus Schlimmeres durchmachen müssen. Gleich nun, ob die mageren Jahre im und nach dem Krieg, das arbeitsreiche Schaffen bis zur Rente, der Verlust von Partnern und sogar Kindern. Willi Stelzig – 1933 geboren – nimmt sich da selbst nicht aus. „Da haben wir schon anderes überlebt“, meint er mit ruhiger, fester Stimme.

Allerdings: Welchen Kampf man hier eigentlich gegen das bisher unbekannte Virus führe, könne er nicht so genau einschätzen. Leider! Denn der ehemalige Verwaltungsdirektor eines Dresdner Krankenhauses mache sich nach eigenem Bekunden darüber schon so seine Gedanken. Fest stehe, gegeben habe es bisher noch nie so etwas. Was es wiederum für alle Menschen komplizierter mache. Wenn klar sei, wovor man Angst haben müsse, wäre der Gegner wenigstens deutlich ausgemacht.

„Da ich aber nicht weiß, wie es sich anfühlt, an Covid-19 zu leiden, kann ich es nicht einschätzen und plage mich auch nicht unnötig damit. Ich weiß jedoch, dass hier im Heim alles zu unserem Schutz getan wird. Das reicht mir“, sagt Willi Stelzig – und kehrt mit dieser Einstellung für eine kleine Weile die zuweilen recht kompliziert erscheinende Welt ein wenig um.